Die Harfe in Mittelerde – Teil 5

Fortsetzung von Teil 4

Die Elben

Und nun führt uns unsere Erkundung zu den Elben.

Da müssen wir etwas weiter ausholen. Denn gerade hier haben wir es mit dem eingangs erwähnten Phänomen zu tun, dass bei der Erwähnung der Harfe in einer Geschichte ganz spezielle Assoziationen geweckt werden – unabhängig davon, ob die Harfe tatsächlich existiert oder nur ein literarischer Kunstgriff ist.

Kehren wir noch einmal zu Tolkien zurück. Er selbst hat nie Harfe gespielt. Trotzdem liebte er die Musik überaus. Am 2. Dezember 1953 schrieb er an Robert Murray: „…Mit Bedauern höre ich, dass Du nun kein Cello mehr hast, nachdem Du (sagt man mir) mit diesem wundervollen und schwierigen Instrument ein Stück weit gekommen bist. Jeder der ein Streichinstrument spielen kann, erscheint mir als Zauberer, der hohe Achtung verdient. Ich liebe die Musik, habe aber keine Begabung für sie; und die Mühen, unter denen man in meiner Jugend versucht hat, mir das Geigenspiel beizubringen, haben in mir nur ein Gefühl der Ehrfurcht angesichts von Geigenspielern hinterlassen. Die slawischen Sprachen gehören für mich fast in die gleiche Kategorie…“ (6)

So war also die Musik von Beginn an einer jener roten Fäden, die sich durch das gesamte literarische Werk Tolkiens zieht. Und die Vermittler dieses roten Fadens sind die Elben!

Bereits in den allerersten Entwürfen des Sagenschatzes, den „Verschollenen Geschichten“, erfährt Eriol als erster Mensch von Rúmil, einem Elben, von den frühesten Ereignissen. (11) Iluvatar gab ein musikalisches Thema vor und die Ainur ließen ihre Musik erschallen:

„ … Darauf begannen die Harfenisten, die Lautenspieler, die Flötenspieler, die Organisten und die unzähligen Chöre der Ainur Ilúvatars Thema zu einer mächtigen Musik auszugestalten…“

Obwohl Tolkien diesen Entwurf später wieder fallengelassen hat, ist schon interessant, dass bereits hier in der Aufzählung der quasi-göttlichen Musiker ausgerechnet mit den Harfenspielern begonnen wird. Hier sind wir wieder bei unserer Ausgangsfrage: Ist das die Art, wie die Elben die alten Sagen sozusagen „musikalisch empfinden“ oder hat man es hier mit tatsächlichen Harfen zu tun. Wenn wir uns an die „Verschollenen Geschichten“ halten, könnte Zweiteres in Betracht kommen. Denn es ist möglich, dass in Valinor die Harfe sogar von den Ainur und den Maiar gespielt wurde. Denn in den weiteren Erzählungen Rúmils finden wir noch folgendes:

„ … In Valmar wohnte auch Noldorin, der vor langer Zeit als Salmar bekannt war, spielte nun Harfe und Leier, saß nun unter Laurelin und ließ seine süße Musik erschallen. Fröhlich sang Amillo dort zu seinem Spiel, der auch Ómar genannt wird und die schönste aller Stimmen besitzt, und alle Lieder in allen Sprachen kennt; wenn er aber nicht zur Harfe seines Bruders sang, erging er sich in Oromes Gärten, wo manchmal die zarte Jungfrau Nielíqui unter den Bäumen tanzte …“ (11)

In der Ainulindale des späteren Silmarillion heißt es nun in abgewandelter Form, das die Stimmen der Auinur erklangen wie Harfen . . . usw. (12)

Da es die Erzählungen der Elben sind, dürfen wir hier sicher annehmen, dass die Elben einen ganz bestimmten Harfenklang in ihrer Vorstellung oder Erinnerung hatten, um die Weltentstehung auf diese Art zu beschreiben. Die Aufzeichnungen darüber sind verloren. Mit ziemlicher Sicherheit können wir dennoch davon ausgehen, dass die Elben aber schon in Valinor die Harfe spielten. Zwei diesbezügliche Hinweise finden wir wiederum in den „Verschollenen Geschichten“. Einerseits von Meril-i-Turinqi, der Elbenkönigin der einsamen Insel. Sie erzählt:

„ … Oft waren die Noldoli bei ihnen und machten mit der Vielzahl ihrer Harfen und Violen eine süße Musik, und Salmar liebt sie …“

Die andere, ähnliche Schilderung kennen wir von Lindo aus Kór:

„ … Nun kamen die Teleri, angeführt von dem weißgekleideten Volk der Inwir, und das Schlagen ihrer versammelten Harfen ließ die Luft süß erbeben …“ (11)

Obwohl es keine direkten Hinweise gibt, dürfen wir annehmen, dass es bei den Elben sogar zu zwei Entwicklungen der Harfe gekommen ist. Einen Harfentypus finden wir vor bei jenen Elben, die nie nach Valinor gezogen sind. In den weiten Wäldern haben jene Elben, die schon in der Altvorderenzeit die Menschen im Osten von Mittelerde in der Musik unterwiesen, auch weiterhin selbst das Harfenspiel gepflegt. Dies schimmert an jener Stelle durch, wo Haldir bei der Ankunft der Gefährten in Lothlorien zu Aragorn spricht und dabei erwähnt, dass „die Hände der Elben häufiger auf der Bogensehne (liegen) als auf der Harfe.“ (13) Die andere Entwicklungslinie der Harfe sind jene Instrumente, welche die Noldor aus Valinor mitbrachten, oder mit ihrer Kenntnis der Hohen Handwerkskunst von Aule, in Mittelerde neue Instrumente bauten. Geradezu ein Musterbeispiel dürften die zwei Instrumente für hohe Elbenfürsten sein: jene Harfe, die Galadriel in den Händen hielt, als sie die Gefährten verabschiedete und jenes silberne Instrument, welches Elrond bei sich hatte, als die Gefährten die letzte Reise zu den Anfurten antraten. (1)

Wie können also diese Harfen ausgesehen oder geklungen haben. Wir können mit unseren heutigen menschlichen Instrumenten nur einen ganz schwachen Abglanz dieser einstigen großen Dinge wieder ins Leben zurückrufen. Doch der Versuch sei erlaubt.

In unserer westlich orientierten Kultur finden wir im Laufe der historischen Instrumentenbauentwicklung einen Typus der Harfe, der klanglich den wunderbaren Harfen der Noldor in Valinor gerecht werden könnte. Es ist dies eine spezielle Harfenbauart des 17. Jahrhunderts mit drei parallelen Saitenreihen. Diese Instrumente, hatten eine Größe von manchmal sogar über zwei Metern und eine Anzahl von ungefähr 80 bis 100 Saiten.

Beim Zusammenklang dieser Saiten erklingt eine Harmonie, die mit nichts irdischem vergleichbar ist. Kleinere Harfen dieser Bauart, wenn auch nur mit einer Saitenreihe, können uns heute noch durchaus ein Hörerlebnis vermitteln, das uns eine Vorstellung der Elbenmusik erleben lässt. Ein Beispiel dieser filigranen Elbenkunst sehen wir in Zeichnung 3.

Zeichnung 3

Eine Überlegung, die vielleicht noch zu weiteren Forschungen anregen könnte ist die folgende: Nehmen wir an, Aule hat den Zwergen mitsamt allen magisch-handwerklichen Fertigkeiten auch die Kunst beigebracht, Harfen zu bauen. Nehmen wir weiter an, auch die Noldor-Elben seien in Valinor in der Harfenbaukunst von Aule unterwiesen worden. Dann hätten wirklich alle späteren Harfen-Instrumente ihren Ursprung bei den Valar.

Hier schließt sich der Kreis, denn wir lesen noch einmal nach bei Professor Tolkien und seinen Sprachen. Datiert mit „November 1915, März 1916“ schrieb er ein Gedicht in der „Feensprache“ (4). Hier ist ein kleiner Ausschnitt:

Ai lintulinda Lasselanta
Pilingeve suyer nalla ganta
Kuluvi ya karnevalinar
V’ematte singi Eldamar

Eine Übersetzung ist uns nicht erhalten, doch wir finden hier zumindest schon die Wörter Lasselanta („Blätterfall“, d. h. Herbst) und Eldamar (das „Elbenland“ im Westen). Ruth S. Noel (14) übersetzte versuchsweise die erste Zeile mit Worten wie diesen:

„O, wie im Fluge vergeht die Zeit und es singen die fallenden Blätter“

Für die Elben war es immer schon so, dass die fallenden Herbstblätter wie eine geheimnisvolle Sphären-Musik klingen. Was könnte denn besser diese Empfindung ausdrücken, als die Musik einer Harfe. Mit dem richtigen Versmaß und dem Reim endet die zweite Zeile mit „ganta“. Ich wage zu behaupten, dass mit diesem einen Wort das Singen der fallenden Herbstblätter mit dem Klingen der Harfe – „ganta“ – im Zusammenhang steht. Die Liebe Tolkiens zur Musik, der große Stellenwert der Harfe im Gesamtwerk von Beginn an und auch die etymologischen Wurzeln der elbischen Sprachen deuten darauf hin.

Fortsetzung im abschließenden Teil 6

Hinweise zu den Textstellen:

  • (1) Realms of TOLKIEN – Images of Middle-Earth; Harper Collins 1996; S. 15
  • (2) Tolkien, J.R.R., The Lost Road – The History of Middle-earth 5; Ballantine Books 1987; S. 391 u. 420
  • (3) Tolkien, J.R.R., Das Buch der verschollenen Geschichten 2; Klett-Cotta 1996; S. 192
  • (4) Carpenter, Humphrey, J.R.R. Tolkien – Eine Biographie; Klett-Kotta 1979; S. 93, 156
  • (5) Steger, Hugo; Philologia Musika; Fink Verlag München 1971; S. 29 ff
  • (6) Tolkien, Chr. u. Carpenter H.; J.R.R. Tolkien Briefe; Klett-Kotta 1991; S. 228, 354,
  • (7) Tolkien, J.R.R.; Der kleine Hobbit; Bitter-Verlag 1993; S. 20
  • (8) Tolkien, J.R.R.; The Hobbit; Harper Collins 1997; S. 249
  • (9) Tolkien, J.R.R.; Nachrichten aus Mittelerde; Klett-Kotta 1993; S. 33 ff
  • (10) Tolkien, J.R.R.; Der Herr der Ringe III; Klett-Kotta 1980; S.275, 349
  • (11) Tolkien, J.R.R., Das Buch der verschollenen Geschichten 1; Klett-Cotta 1996; S. 40 ff, 67, 93,149, 167,
  • (12) Tolkien, J.R.R.; Das Silmarillion; Klett-Kotta 1994; S.21
  • (13) Tolkien, J.R.R.; Der Herr der Ringe I; Klett-Kotta 1980; S. 420
  • (14) Noel, Ruth S.; The Languagesof Tolkien’s Middle-earth; Houghton Mifflin 1980; S. 5

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