Beowulf
Im Beowulf wird aber nun an zentraler Stelle mehrmals ein Instrument „Harfe“ erwähnt. Das wäre ein Indiz, dass der Harfen-Name zu einem Instrument gehört, welches im 4./5. Jahrhundert vom Festland auf die britische Insel gebracht wurde. Im Angelsächsischen wurde die Harfe mit einem Kenning umschrieben. („Beowulf“ ist selbst so ein Kenning für Bär: Beowulf = Bienen-Wolf = der Bär). Es handelt sich um die Silbe gleó– in dem angelsächsischen Wort glig-beám oder später glee-beam: das ist die Harfe.
Die Zeile im Beowulf lautet:
Nis hearpan wyn, gomen gleóbeámas – „Die Harfe verstummte, das herrliche Klangholz“ (Beow. Vers 2263).
An anderer Stelle:
Dær wæs gidd and gleó, hwilum he hearpan wynne, gomenwudu grette – „Da war Sang und Sage, er ließ klingen die Harfe, das liebliche Lustholz“ (Beow. Vers 2108) (5)
Aber nicht nur in der angelsächsischen Literatur, sondern auch in der hochmittelalterlichen deutschen Dichtung spielt die Harfe eine bedeutende Rolle. Einen großen Stellenwert nimmt dieses Instrument in der Bearbeitung des Tristanstoffes durch Gottfried von Straßburg ein. Tristan ist hier ebenso sehr begnadeter Musiker, Sänger und Komponist wie wohlerzogener Hofmann, tapferer Ritter und listenreicher Krieger.
Sogar im grönländischen alten Atlilied (Vers 65) der Edda finden wir die Harfe:
„Die Harfe nahm Gunnar, er griff mit den Fußzweigen
Die Weiber weinten, so wusste er zu spielen.
Es klagten die Krieger, die den Klang hörten;
Die Balken barsten. Der Frau gab er Botschaft.“ (5)
Die Frage ist nun, zu welchem Instrument der Name vor dem 10./11. Jahrhundert gehört. Denn im überlieferten Bildmaterial taucht die Harfe mit Vorderstange erst im Hochmittelalter auf. Das kann aber nicht im geringen Sozialprestige des Instrumentes liegen, da der Name Harfe seit dem 6. Jahrhundert in der soziologisch vergleichbaren Literatur bezeugt ist.
Das Wort „Harfe“
Erst ab dem 10. Jahrhundert gehören die Sache Harfe und der Harfen-Name zusammen. Da jedoch der Harfen-Name vorher da war und in der kontinentalen Literatur unterschieden wurde von anderen Saiteninstrumenten, ist mit Sicherheit anzunehmen, dass er dort in dieser Zeit bereits ein bestimmtes Instrument bezeichnet. Das schränkt jedoch nicht ein, dass das Verbum harfen allgemein auf das Zupfen von Saiteninstrumenten weisen kann; das wäre dann nur ein Beleg für das hohe Alter von Name und Sache.
Tolkien war sich dieses Problems auch bewusst, wie wir aus einem seiner Briefe wissen. So schrieb er am 4. Mai 1958: „…Wörter können erfunden werden oder entlehnt sein, und in beiden Fällen können sie älteren Wörtern sehr ähnlich sein. Das formale Äquivalent (das einzig bekannte) zu unserem harp ist lateinisch corbis. (Romanisch arpa etc. ist aus dem Germanischen entlehnt). Aber der arme Philologe wird erst einen archäologischen Sachverständigen zu Rate ziehen müssen, ehe er beurteilen kann, ob irgendeine Beziehung zwischen „Harfen“ und „Körben“ möglich ist – vorausgesetzt, das germanische harpó bedeutet immer „Harfe“ oder corbis immer „Weidenkorb“! corbita bedeutet ein dickbauchiges Schiff.“ (6)
Der zweite Aspekt ist der der literarischen Wirkung. Wenn wir heute einen Text lesen in dem das Wort „Harfe“ auftaucht, hat jeder Leser natürlich seine ganz persönlichen Vorstellungen darüber. Diese Assoziationen sind verschiedener Natur. Wir sind (fast immer) in der Lage, uns ein Instrument vorzustellen, oder wie der Klang des Instrumentes sein könnte.
Die Art, wie ein Spieler seine Harfe handhabt, hängt auch von der Bauart des Instrumentes ab. Wir haben vielleicht schon Bilder von Minnesängern mit ihren kleinen Wanderharfen gesehen oder beim Besuch eines Symphoniekonzertes die große Konzertharfe mitten im Orchester wahrgenommen. So unterschiedlich diese beiden Bilder sind, so verschieden sind auch die Klänge dieser beiden Instrumente – und das aber im kulturellen Abstand von „nur“ einem Jahrtausend.
Im Vergleich dazu haben wir es in Mittelerde mit einer Harfenentwicklung zu tun durch all die ungezählten Jahre der Elben in Valinor und den darauf folgenden sieben Jahrtausenden der Drei Zeitalter von Mittelerde.
In erster Linie, und das wird sich für unsere Betrachtungen hier als hilfreich erweisen, haben wir beim Lesen des Wortes Harfe in einem Text fast immer ein inneres Hörerlebnis aus der Erinnerung. Daher sind wir imstande, jene Gefühle wieder erneut in uns leben zu lassen die wir hatten, als wir einstmals – bewusst oder unbewusst – die Harfe hörten. Diese inneren Stimmungen der Vollkommenheit und Harmonie in der Musik empfinden wir als beinahe unerklärliches Wohlbefinden, wenn beim Lesen des Textes die Harfe vor die Seele gerückt wird.
Dieses Gefühl wäre jedoch von ganz anderer Art, wenn der Autor an Stelle der Harfe eine Lyra setzt. Da haben wir keine Hör-Erinnerungen. Die Assoziationen sind historisch abstrakt und nur bildhafter Natur. Wir kennen vielleicht Apollon mit der Lyra aus der griechischen Literatur. Auch haben wir – als großes Kinoerlebnis – schon Kaiser Nero mit seiner Leier im brennenden Rom gesehen.
Mit diesen Betrachtungen sind wir nun soweit, dass wir den Schritt nach Mittelerde wagen können. Was wir aus dem Roten Buch der Westmark wissen, stammt von den Elben, die ihr Wissen an Bilbo aus dem Auenland weitergegeben haben. In diesen Erzählungen der Elben aus den Ältesten Tagen bedienen auch sie sich genau dieser Assoziation. Denn der Hörer – in unserem Falle eben Bilbo – hat ja naturgemäß Vorstellungen eines Harfenklanges zum Ende des Dritten Zeitalters, obwohl die Sagen der Altvorderenzeit ungefähr sechstausend Jahre zurückliegen.
Sogar die Elben selbst beschreiben den Anfang der Welt, so wie es ihnen von den Valar übermittelt wurde, ebenfalls mit Harfenklang-Assoziationen – wiederum zurückversetzt durch die Großen Zeitalter bis zur Entstehung von Arda.
Hinweise zu den Textstellen:
- (1) Realms of TOLKIEN – Images of Middle-Earth; Harper Collins 1996; S. 15
- (2) Tolkien, J.R.R., The Lost Road – The History of Middle-earth 5; Ballantine Books 1987; S. 391 u. 420
- (3) Tolkien, J.R.R., Das Buch der verschollenen Geschichten 2; Klett-Cotta 1996; S. 192
- (4) Carpenter, Humphrey, J.R.R. Tolkien – Eine Biographie; Klett-Kotta 1979; S. 93, 156
- (5) Steger, Hugo; Philologia Musika; Fink Verlag München 1971; S. 29 ff
- (6) Tolkien, Chr. u. Carpenter H.; J.R.R. Tolkien Briefe; Klett-Kotta 1991; S. 228, 354,
- (7) Tolkien, J.R.R.; Der kleine Hobbit; Bitter-Verlag 1993; S. 20
- (8) Tolkien, J.R.R.; The Hobbit; Harper Collins 1997; S. 249
- (9) Tolkien, J.R.R.; Nachrichten aus Mittelerde; Klett-Kotta 1993; S. 33 ff
- (10) Tolkien, J.R.R.; Der Herr der Ringe III; Klett-Kotta 1980; S.275, 349
- (11) Tolkien, J.R.R., Das Buch der verschollenen Geschichten 1; Klett-Cotta 1996; S. 40 ff, 67, 93,149, 167,
- (12) Tolkien, J.R.R.; Das Silmarillion; Klett-Kotta 1994; S.21
- (13) Tolkien, J.R.R.; Der Herr der Ringe I; Klett-Kotta 1980; S. 420
- (14) Noel, Ruth S.; The Languagesof Tolkien’s Middle-earth; Houghton Mifflin 1980; S. 5