Ein Vortrag von Dane Rudhyar am 22. November 1922 in New York.
Erstmalig veröffentlicht in der Musikzeitschrift Eolian Review, Jahrgang 1923
Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche: Ing. Norbert Maier, Schwaz, im August 2021.
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Einst gab es eine Zeit, da wurden die Musikinstrumente als Tabernakel betrachtet – sozusagen als halbgeistige Kleinodien oder „Wertgegenstände“ – da die Wesenheit der Götter in sie herabstiegen.
Die Instrumente wurden dadurch wahrhaftig beseelt, da das Leben der Götter in der vibrierenden Materie (in den Schallwellen) pulsierte. Die Auswahl der Materialien, die zum Bau der Instrumente verwendet wurden, war ein wichtiges (symbolisches) Kriterium für die Art der zu spielenden Musik. Ob tierische, pflanzliche oder mineralische Elemente im Instrument vorherrschten, hatte eine große Bedeutung für die Menschen, die in allem die inneren Entsprechungen sehen konnten, seien es spirituelle, astrologische oder bloß formale.
Diese Zeiten sind nicht gänzlich verschwunden. Fast im gesamten asiatischen Bereich verneigen sich die Musiker in stiller Ehrfurcht vor ihren Instrumenten, bevor sie sie zum Erklingen bringen. Die innere Gottheit musste angebetet werden, bevor Er aus seiner kosmischen Stille erwacht. Heute noch sehen die Asiaten jene “Devas“ – Götter – die ihre Instrumente beseelen.
Die Formgebung der Instrumente hatte in vielen Fällen – und das bis in die heutige Zeit – eine große okkulte Bedeutung. Die Entwicklung solcher Formen im Laufe der Zeitalter offenbart sehr viel über die “innere“ Historie der Menschheit.
Unsere westliche Zivilisation verachtet derartige Gefühle und Forschungen. Sie sieht nur den materiellen, toten Aspekt der Musik: die Schwingungen der Luftmoleküle; es wird nur der kalte zahlenmäßige Wert des Schalles berechnet, und darauf werden die Tonskalen aufgebaut die genau in demselben Maße lebendig sind wie das inneren Leben des modernen Menschen und der Natur, und dann bloß wie nützliche Werkzeuge verwendet werden.
Die Leute lernen das Instrumentenspiel ohne besonderen Grund; Sie können schwer nachempfinden, dass das Motiv, welches sie zur Auswahl dieses oder jenes Instrumentes veranlasste, geboren wurde aus einer inneren Analogie des Wesens, welches die Seele des Musikers verbindet mit der Seele, die sich symbolisch durch das Instrument manifestiert. Tatsächlich würden viele diese Vorstellung belächeln.
Dennoch weiß jeder, daß es zwischen Volksgruppen und Instrumentenfamilien sehr eindeutige Affinitäten gibt. Französische Musiker zeichnen sich durch die Holzblasinstrumente aus; die Deutschen sind stolz auf ihre Blechbläser; die Juden in Russland sind oft exzellente Geiger; Polen und Ungarn brachten einigen der größten Pianisten hervor – die Ungarn liebten das Cymbalon bevor Liszt auftauchte, der das Klavier förmlich verwandelte, das dann für eine Weile seine Seele verkörperte.
All diese Tatsachen sind ein deutlicher Hinweis auf eine eine tiefe okkulte Beziehung zwischen menschlichen Typen und den Instrumenten.
Dieser spezielle Zweig des musikalischen Okkultismus mag dem Studenten noch viele faszinierende Wahrheiten zur Erkenntnis bringen, aber wir werden uns jetzt nicht auf diese Suche begeben, die uns so weitab führen würde.
Die Harfe hat wie alle anderen Instrumente – und vielleicht sogar mehr als die meisten von ihnen – ihre okkulte Bedeutung. Es ist eines der ältesten Instrumente und findet sich in verschiedenen Formen in allen Tempeldekorationen jeden Zeitalters. Die irische Mythologie ist besonders reich an Legenden und Symbolen, die mit der Harfe verbunden sind.
Die Harfe mit ihren sieben Saiten repräsentierte die Materie in ihren siebenfachen Stufen, modern würden wir sagen: das Atom mit seinen sieben Spiralen. Und als das Universum entstehen sollte, zupfte der Schöpfer eine Saiten nach der anderen auf der kosmischen Harfe, die die ganze Weite des Ur-Raumes umfasste, und die Schwingungen, die so ausstrahlten, erschufen die Welten. Dann sprach der Schöpfer den Großen Namen und alle Seine Buchstaben wurden zu Göttern, die die sieben Sphären der Materie in Besitz nahmen.
Das ist vielleicht der Grund, warum wir fast immer mit einem Akkord auf der Harfe beginnen, bevor wir ein Lied beginnen. Solche Allegorien finden sich in allen Religionen unter verschiedenen Gewändern, und die Harfe, die Windpfeife und einige Arten von Saiteninstrumenten finden sich immer zusammen, um alle primitiven Orchester zu bilden.
Die Urharfe unterschied sich jedoch stark von der jetzigen. Sie war in jeder Hinsicht einem Bogen sehr ähnlich; und es ist leicht vorstellbar – wie ich in einem früheren Artikel geschrieben habe – dass der zufällig „andere“ Gebrauch eines Bogens und die Entdeckung des Tones, der durch die gezupfte Saite erzeugt wird, der Ursprung dieser Art von Musik sei. Eine solche Theorie gefällt jedenfalls dem gewöhnlichen materialistischen Historiker, der nachsichtig und gelehrt über Höhlenmenschen und dergleichen theoretisiert.
Es steht jedoch im Gegensatz zu allen religiösen Traditionen und ist bei allen Rassen und Völkern seltsamerweise identisch, denn alle geben der Musik und den Instrumenten einen göttlichen Ursprung. Daß hohe Intelligenzen aus höheren Sphären die kindliche Menschheit gelehrt und ihr eine Art musikalisches Wissen geschenkt haben sollen, scheint uns überhaupt keine außergewöhnliche Annahme zu sein.
Wenn Kinder Erzieher brauchen, warum sollte die Menschheit als Ganzes dann nicht auch in ihrer Jugend große Erzieher gebraucht und gefunden haben? Offensichtlich ist an der Theorie nichts Absurdes, die überdies die einhellige Bestätigung der aller Tradition findet.
Wie auch immer, Tatsache ist, dass die Urharfe die Form eines Bogens hat (Abb. 1a). Betonen Sie die Form etwas und Sie haben einen halben Umfang und seinen Durchmesser (Abb. 1).
Nun ist die esoterische und metaphysische Bedeutung einer solchen Figur offensichtlich. Der Kreis repräsentiert den Raum. Der Halbkreis zeigt an, dass die Manifestation stattgefunden hat. Der Durchmesser ist Materie, der halbe Umfang ist noch undifferenzierter Geist. Der Harfenist identifiziert sich mit dem Umfang, dem sein Körper in seiner Krümmung folgt. Die Hände – Symbole der schöpferischen Kraft, der demiurgischen Fähigkeit – erwecken die Materie zum Leben und zur Schwingung. Harfe und Harfenistin reproduzieren das Drama der Schöpfung, als der Schöpfer die siebenfache Materie in Schwingung versetzte und die Welten mit Seinen geistigen Schöpfungsorganen gestaltete, deren anthropomorphe Symbole die Hände sind.
Diese Form der Harfe ist im frühen Ägypten, in Amerika, in Asien, überall zu finden. Kommen wir jedoch ins Mittelalter, so haben wir eine Entwicklung einer neuen Harfe, deren Form radikal anders ist. Ich betone das Wort „radikal“, weil die Veränderung tatsächlich eine folgenschwere ist. Die Harfe war regelrecht umgedreht.
Etwas Ungeheures muss in der Musik und im Menschen geschehen sein, um die Notwendigkeit einer solchen Revolution herbeizuführen. In meinem Buch „Die Wiederentdeckung der Musik“ (1) wird die Bedeutung einer solchen menschlichen Revolution vollständig enthüllt; Lassen Sie uns hier nur die Idee andeuten, nach der eine solche Revolution mit dem Kommen Gautamas, des Buddha, und Jesu, des Christus, zusammenfallen würde.
Der große Name, der eine solche Revolution in der Musik symbolisiert, ist der Name von Pythagoras, einem nahen Zeitgenossen des Buddha (um 600 v. Chr.). Wir können seine Botschaft hier nicht studieren, da sie noch so wenig verstanden wurde. Es genügt zu sagen, dass die Musik zu dieser Zeit wahrscheinlich radikal verändert wurde, obwohl die Transformation nur langsam erkannt und akzeptiert wurde, ohne dass ihre innere Bedeutung verstanden wurde.
Wenn wir uns jedoch auf das Studium der Morphologie der Harfe beschränken, werden wir das Ausmaß der Veränderung leicht erfassen, wenn wir bedenken, dass die Hände der Harfenistin nicht mehr den Durchmesser des Kreises – den Materieaspekt – zupfen, sondern die Seite eines rechteckigen Dreiecks, dessen Hypotenuse mit dem Durchmesser des alten zusammenfällt.
Die Abbildungen 1 und 1a repräsentieren die alte Idee der Harfe. Dann zeigt Abbildung 2, wie der halbe Umfang so modifiziert wurde, dass er die beiden Arme eines 90°-Winkels wird; mit anderen Worten, wie der Umfang quadriert wurde – der Traum so vieler Mathematiker!
Die Abbildungen 3 und 3a stellen die moderne Harfe in ihrer wesentlichen Form und einen Vergleich zwischen Abb. 2 und Abb. 3 dar. 3 zeigt deutlich, wie sich die allgemeine Form der Harfe umgedreht hat. Was einst die Saite ausmachte, ist jetzt der Resonanzboden, der Durchmesser die Hypotenuse des Dreiecks.
Die Harfe erscheint in einigen mittelalterlichen Abbildungen genau in ihrer dreieckigen Form, wie in Abb. 2, und die Krümmung des Ellenbogens, nur für einen praktischen Zweck gemacht, ist theoretisch von geringem Wert, obwohl sie sogar symbolisch interpretiert werden kann. Betrachten wir die Harfe als rechteckiges Dreieck, werden wir die Symbologie ihrer Form verstehen, wenn wir uns an einen alten Satz erinnern, der besagt, dass das Quadrat der Hypotenuse gleich der Summe der Quadrate der beiden anderen Seiten des Dreiecks ist.
Nun war ein solcher Satz nicht nur dem Pythagoras bekannt, mit dem er oft in Verbindung gebracht wird, sondern auch den alten chinesischen Philosophen, die ihm wahrscheinlich vorausgegangen sind. Sie rechneten damit und gaben den drei Seiten des Dreiecks die folgenden Proportionen:
52 = 42 + 32
in einfachen Zahlen ausgedrückt: 25 = 16 + 9
Nach der alten Arithmosophie steht nun 3 für die Gottheit, 4 für den Menschen – in seiner gegenwärtigen persönlichen Stufe – und 5 für das Schicksal.
5 ist die Hälfte von 10.
Wenn Sie denken, dass 10 auch als ein Kreis mit einem senkrechten Strich in der Mitte dargestellt werden kann, werden Sie sehen, dass 5 wirklich den Durchmesser der urzeitlichen Harfe und den Resonanzboden der modernen Harfe repräsentiert. 5 repräsentiert die Materie in ihrem kosmischen Zustand, also die Beziehung des Manifesten zum Unmanifesten, folglich das Gesetz von Ursache und Wirkung, Karma oder Schicksal.
Die okkulte Idee, die in dieser Formel zum Ausdruck kommt, ist, dass die Macht des Menschen im Zusammenwirken mit der Macht der inneren Gottheit dem Schicksal entgegenwirken kann, d. h. der Kette von Ursache und Wirkung ein Ende setzen kann.
Nun hängt die gesamte Lehre Buddhas von der Idee ab, dass die Kette von Ursache und Wirkung transzendiert werden muss und dass der Mensch und der Gott im Menschen das Nirvana erreichen können: das ist der vollkommene Kreis, der frei von jeglichem diametralen Einfluss ist. Dies bedeutet – in dieTerminologie der Harfe übersetzt – dass, wenn Ihr Anschlag der Saite gut und Ihre Saite gut gestimmt ist, der Ton perfekt durch den Resonanzboden erklingt und ein runder Ton ist. Denn der Ellenbogen der Harfe stellt das Stimmprinzip der Saiten dar, die für den Menschen stehen – den vielfältigen Menschen, der wir alle bewusst oder unbewusst sind.
Mit anderen Worten, die verschiedenen Naturen des Menschen sind alle von oder in seinem Gott, seinem göttlichen Prinzip, abgestimmt. Und wenn dieses göttliche Prinzip in der Harfe durch einen Ellbogen, durch eine Kurve dargestellt wird, dann deshalb, weil die Gottheit im Wesentlichen durch eine doppelte Kurve (sinusförmig) durch ein S symbolisiert wird – einer Figur, die die Idee des Zyklischen aller Wesenheiten ausdrückt, d. h. von allen Entwicklungen. Gott als das absolute Wesen ist ein Kreis; Götter als manifestierte Essenzen sind Sinusoide (Sinus-ähnlich), die einen unterbrochenen, offenen Kreis darstellen.
All dies wird nun zweifellos vielen Menschen kindisch oder ungewohnt erscheinen, so wie Westler sich mit Symbolen und esoterischen Konzepten auseinandersetzen. Doch so viele Zufälle sind schwer der geheimen Macht des Zufalls zuzuschreiben; warum sollte man eine solche Theorie nicht als abstrakte Spekulation akzeptieren, genau so plausibel wie jede empirische Erklärung, die nur über die Idee lacht, einen metaphysischen Sinn in der Form eines Musikinstruments zu finden?
Tatsache ist jedenfalls, dass sich offenbar zu Beginn der christlichen Ära(2) die Form der Harfen veränderte und die Dreiecksform an die Stelle des bogenförmigen Gebildes trat.
Es kann sein, dass dies aufgrund wiederholter Experimente geschah, die die Vorzüglichkeit der neuen Form bewiesen; Es ist jedoch schwierige, eine solche Hypothese zu akzeptieren, da es offensichtlich ist, dass die große ägyptische Harfe einen viel schöneren Ton und eine viel größere Tonkraft hatte als die seltsame dreieckige kleine Harfe, die wir auf alten mittelalterlichen Manuskripten gemalt sehen oder an den Kirchenwänden geschnitzt sehen. Warum sollte dann die Änderung vorgenommen worden sein, wenn auch nur wegen der Wirkung auf die Sinne?
Andererseits ist eine solche Transformation leicht zu erklären, wenn wir sie mit der inneren Wandlung vergleichen, die die Menschheit während der bedeutsamen Periode von 500 v. Chr. Bis 300 n. Chr. In dieser Periode gab es fast zur gleichen Zeit große Eingeweihte und geistige Lehrer (Buddha, Lao-Tze, der letzte Zarathustra, Pythagoras, usw.) und markiert die Geburt des Menschen als freies, völlig selbst-energetisiertes, spirituelles Wesen. Nicht, dass alle Menschen so geworden wären – ach! wir sind noch weit davon entfernt – aber der große kollektive Zyklus, der eine solche Gelegenheit zur „Findung Christi“, des Gottes in jedem von uns, bietet, wurde damals eingeleitet. Und dies bedeutete eine allgemeine Umkehrung des geistig-menschlichen Magnetismus.
In der Vergangenheit waren die Menschen wie Kinder, entweder höchst bemerkenswert und intuitiv oder dumm. Sie wurden geführt und regiert von Intelligenzen, die höheren Lebensbereichen angehören, von Seelen, die freiwillig inkarniert wurden, um die kindliche Menschheit zu leiten und zu erziehen. Die kollektive Haltung des Menschen war die religiöse, hingebungsvolle, manchmal auch sklavische Haltung. Der Mensch hatte, kollektiv gesprochen, sein Schicksal nicht in seiner Hand. Die Menschheit stieg immer noch in die Materie hinab und erzeugte Karma oder Ursachen, die jetzt massiv als schicksalhafte Ergebnisse auf uns zukommen.
Es war die involutionäre Periode der kollektiven Seele des Menschen, die langsam ihr materielles Universum aufbaute.
Wir sehen also, wie der Harfenspieler die Saiten der bogenartigen Harfe zupft, deren Saiten damals die Materie symbolisierten. Der Harfenist, die Musikerseele, baute seine Klangwelt, sein musikalisches Universum.
Dann kommt der Moment der Emanzipation. Die Kinder-Menschlichkeit wird zu einem potentiellen „Mensch“. (Es wird Hunderte von Jahrtausenden dauern, bis es ein ganzer und tatsächlicher Mensch wird.) Es wird selbstständig und energiegeladen – möglicherweise für immer.
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Fortsetzung – siehe Teil 2